Rückblick auf die 44. Legislaturperiode

2. Aussenpolitik

92.052

EWR-Abkommen
Accord sur l'EEE

Botschaft: 18.5.1992 (BBl IV, 1 / FF IV, 1)

Ausgangslage

Das EWR-Abkommen zielt auf die Regelung und Neugestaltung der Gesamtheit der Beziehungen der Schweiz zur EG. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, vom 1.1.1993 an am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen, und zwar zu nahezu denselben Bedingungen wie ein EG-Mitgliedstaat. Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen wird damit zwischen der Schweiz und der EG in gleicher Weise gewährleistet sein, wie zwischen EG-Mitgliedstaaten. Zugleich geht damit die Möglichkeit der verstärkten Teilnahme an der Erarbeitung und Verwirklichung der Begleitpolitiken der EG einher, namentlich im Bereich Forschung und Entwicklung, Erziehung und Unterrichtswesen, Sozialpolitik, Konsumentenschutz und Umweltschutz. Die von der Schweiz im Rahmen des EWR zu beachtenden Grundsätze, allem voran das Prinzip der Inländerbehandlung und der Nichtdiskriminierung, werden im Gegenzug in der EG und den EFTA-Ländern auch für schweizerische Unternehmungen und Schweizerbürger Gültigkeit haben. Wenngleich sie im wirtschaftlichen Bereich einer EG-Vollmitgliedschaft sehr nahe kommt, unterscheidet sich die Teilnahme am EWR in institutioneller Hinsicht doch sehr wesentlich davon. Im Unterschied zur EG-Mitgliedschaft gestattet der EWR-Status keine uneingeschränkte Teilnahme an den Entscheidungsverfahren und den binnenmarktrelevante und konnexe Bereiche betreffenden Beschlüssen. Ihrer Vorrangstellung wegen, die das Abkommen der EG einräumt, sowie aufgrund der institutionellen Zweisäulenstruktur des EWR, bei der die EG den einen und die EFTA den anderen Pfleiler darstellt, werden die Rechte der Schweiz beschränkt sein.

Der EWR bürdet der Schweiz aber auch weniger Pflichten auf, dies deshalb, weil die in das EWR-Abkommen übernommenen Gemeinschaftsregeln nicht die Gesamtheit der Aufgabengebiete der EG abdecken. Ausgeschlossen sind insbesondere die Bereiche Landwirtschaftspolitik und Steuerharmonisierung. Die Schweiz wird zudem keine legislativen Kompetenzen an die EG abtreten müssen und wird über ein Vetorecht verfügen. Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik der Schweiz bleiben unberührt.

Das EWR-Abkommen bringt eine weitgehende Übernahme des EG-Rechts durch die EFTA-Staaten. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Schweiz müssen daher mit dem Recht des Vertrages in Einklang gebracht werden und infolge der Homogenitätsbedürfnisse des EWR fortan soweit als möglich europakompatibel sein. Auch werden sie sich im gleichen Rhythmus wie das EWR-Recht weiterentwickeln müssen. Das EWR-Abkommen ist im Grunde die juristische Umsetzung dessen, was in den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EG längst Wirklichkeit ist.

Das EWR-Abkommen kann als Ausdruck des politischen Willens der wichtigsten Länder Westeuropas verstanden werden, die Gesamtheit ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potentials unter ein und demselben Dach zu vereinigen, dies mit einer zweifachen Zielsetzung, die da ist:

  • die Konkurrenzfähigkeit ihrer Unternehmungen zu stärken und den Wohlstand ihrer Bürger zu mehren, und gleichzeitig
  • ihre Anstrengungen zur Schaffung strukturierter innereuropäischer Beziehungen zu verstärken.

Der Bundesrat betrachtet die EWR-Mitgliedschaft nicht als letztes Ziel seiner Integrationspolitik, sondern als wichtige Zwischenstation jener Politik, welche die Schweiz zu einer vorbehaltlosen Mitgliedschaft in der EG führen soll. Beim EWR handelt es sich um einen Integrationsschritt mit wirtschaftlichem Schwergewicht, wogegen es sich beim EG-Beitritt in erster Linie um einen Eintritt der Schweiz in eine Staatengemeinschaft handelt, die sich die Verwirklichung der politischen Union zum Ziel gesetzt hat.

Verhandlungen

NR 24./25./26.08.1992 AB 1992, 1290, 1317, 1343
SR 22./23./24./29.09.1992 AB 1992, 781, 793, 825, 883
NR 30.09.1992 AB 1992, 1836
SR 01.10.1992 AB 1992, 941
NR / SR 09.10.1992 Schlussabstimmungen (127:61 / 39:4)

Im Nationalrat waren die Fraktionen der SD/Lega, AP, SVP und die Grünen gegen eine Unterzeichnung des EWR-Vertrages. Auf der Befürworterseite waren die drei grossen Regierungsparteien, die Liberalen und die LdU/EVP Fraktion. Die Mitglieder des Nationalrates folgten aber nicht einheitlich den Ansichten ihrer Fraktionen. Sowohl auf Seiten der Befürworter wie der Gegner konnten zahlreiche Dissidente ausgemacht werden. Bei der Eintretensdebatte ergriffen ausser den Fraktionssprechern mehr als 126 Einzelredner das Wort. Die Gegner des Vertrages artikulierten Befürchtungen, ohne eine Alternative zu präsentieren. Sie priesen das Freihandelsabkommen von 1972, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass für die Weiterentwicklung dieses Vertrages heute der Partner fehlt. Die Befürworter wollten, dass der Binnenmarkt von der Schweiz aus bearbeitet werde und Arbeitsplätze sowie Steuersubstrat nicht ins Ausland abwanderten. Für zahlreiche Befürworter führte keine Automatik vom EWR in die EG. Auch sicherheitspolitisch könne die Schweiz den Alleingang nicht mehr verantworten. Nach dem Zusammenbruch der amerikanisch-sowjetischen Doppelhegemonie stelle sich auch der Schweiz die brennende Frage, wie sich der Zerfall Europas in ein heilloses und in seiner Wirkung auf Menschen und Minoritäten grausames Durcheinander rivalisierender Nationalstaaten verhindern lasse. Dem Nationalismus könne nur mit einem gesamtheitlichen Konzept, mit politisch-wirtschaftlichen Interessen begegnet werden.

Bundespräsident Felber verteidigte die Europapolitik der Regierung. Mit anderen Regierungen habe sie ein Abkommen ausgehandelt, das sicher Mängel aufweise, aber viele Vorteile biete. Dem Vorwurf, der EWR bringe unerträgliche Souveränitätsverluste, entgegnete Bundesrat Koller, man sollte mit diesem Allerweltsbegriff etwas vorsichtiger umgehen. Bei der Gründung des Bundesstaates hätten die Kantone wesentlich mehr Souveränität preisgegeben, als die Schweiz das mit dem EWR tue. Bundespräsident Felber meinte, dass die Schweiz durch die Teilnahme am EWR ihr eigenes europäisches Schicksal in die Hand nehme. Was uns künftig mit Europa verbinde, stellte er fest, sei im Grunde die Verlängerung dessen, was uns im Innern zusammenhalte und unsere Identität ausmache, deren Werte wir mit den anderen teilen werden. Felber rechtfertigte den Entscheid des Bundesrates, sich durch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen weitergehende Europa-Optionen offenzuhalten. Für Bundesrat Delamuraz offeriert der EWR der Schweiz einen modernen Rahmen für ihre wirtschaftlichen Aktivitäten. Aber an ihrer Innovationskraft allein liege es, dieser Chance und Herausforderung zugleich kreativ zu begegnen. Der EWR sei ambitiöser als der vertraute Freihandelsvertrag, weil er nicht bloss Zölle senke, sondern die ungehinderte Vermarktung von Produkten sicherstelle, die Dienstleistungen einschliesse und den freien Personenverkehr ermögliche. Als "kolossal naiv" bezeichnete Delamuraz die Vorstellung, dass die Schweiz in bilateralen Verhandlungen mit allen EWR-Staaten ein besseres Resultat erzielen könnte als mit der Annahme des globalen EWR-Vertrags. Nach einer dreitägigen Debatte beschloss der Nationalrat mit 128 zu 58 Stimmen und 6 Enthaltungen, dem Bundesbeschluss zuzustimmen.

In der Debatte des Ständerates plädierten 27 Votanten für und 3 gegen einen Beitritt zum EWR. Die Westschweizer und Sozialdemokraten forderten eine grundsätzliche Öffnung der Schweiz gegenüber der EG, die bürgerlichen Deutschschweizer waren der Meinung, der EWR-Beitritt sei für die Schweiz angesichts des bevorstehenden Zusammenschlusses von EG und EFTA zu einem gemeinsamen Binnenmarkt die einzige Lösung. Gegen den EWR referierte Uhlmann (V, TG), der erklärte, dass es keine gesicherte Prognose gäbe, die den wirtschaftlichen Nutzen eines EWR-Beitritts belege. Den Bauern gebe der Vertrag höchstens kurzfristig Sicherheit. Vor allem kritisierte er, dass im EWR für die Weiterentwicklung des Europarechts die Mitbestimmung verweigert werde. Für Petitpierre (R, GE) ist der EWR-Beitritt nur ein Schritt in einem seit Jahrzehnten dauernden Annäherungsprozess. Rhinow (R, BL) sagte, dass der EWR-Beitritt eine logische Reaktion auf die Veränderung der europäischen Umwelt sei. Vertreter der Bergregionen wiesen auf besondere Anpassungsprobleme von Grenz- und Bergregionen hin und verlangten vom Bundesrat Förderungsmassnahmen. Schoch (R, AR) erwähnte einen militärpolitischen Aspekt: Die Schweiz werde schon bald auch ihre Sicherheit nicht mehr im Alleingang garantieren können. Sie müsse sich in europäische Strukturen eingliedern können. Bundesrat Delamuraz meinte vor dem Ständerat, dass ein Nein die Schweiz nicht ins "Chaos" stürzen werde, ein Ja werde jedoch auch keine wirtschaftlichen Wunder bewirken. Nach einem Nein zum EWR wäre die Schweiz aber zu erstenmal institutionell aus der europäischen Völkergemeinschaft ausgeschlossen. Der Ständerat stimmte dem Beschluss mit 38 zu 2 Stimmen zu.

Legislaturrückblick 1991-1995 - © Parlamentsdienste Bern

 

Hauptinhaltverzeichnis
Inhaltverzeichnis des aktuellen Kapitels Index Inhaltverzeichnis des folgenen Kapitels
Rückkehr zum SeitenbeginnRückkehr zum Seitenbeginn

HomeHome